Interaktionsordnung und Handlungskontext

Spätestens seit den Arbeiten von Erving Goffman verhandelt die Soziologie „Interaktion“ als eine Elementarform sozialer Ordnungsbildung. Nicht zu unrecht, sind wir doch alltäglich in unzählige Interaktionen verstrickt, ja, erfahren unseren Alltag per se als einziges Interaktionsgeschehen, gleich ob wir uns auf der Straße begegnen und einander ausweichen, im Zugabteil anschweigen, mit Freunden um die Häuser ziehen, um uns hernach in einer Prügelei oder – angenehmer – nach einem vorsichtigen Flirt im intensiven (vielleicht auch verschämten) Liebesspiel wiederzufinden. Für das Zustandekommen von Interaktionen, so könnte man sagen, braucht es nicht viel, lediglich zwei Menschen, die sich hic et nunc begegnen und einander wahrnehmen. Die Systemtheorie fasst den Interaktionsbegriff so auch recht schlicht als „Kommunikation unter Anwesenden“ (Kieserling 1999), während er innerhalb ihres Begriffsrepertoires als „einfaches Sozialsystem“ firmiert (Luhmann 2005). Gleichwohl, bei der Analyse von Interaktion kann es sich die Soziologie natürlich alles andere als leicht machen, denn bei genauerer Betrachtung erweist sie sich als ein hochgradig diffiziles Ordnungsgeschehen. Für ihr Zustandekommen braucht es Anlässe und Gelegenheiten, für ihre Aufrechterhaltung unterschiedlichster Stützen (z. B. Themen), für ihre Beendigung sozialisatorisch erworbener Techniken, für ihre Wiederaufnahme im Vollzug gebauter ‚Brücken‘ etc. Diffizil, wenn nicht gar heikel, sind Interaktionen zudem, weil sich in ihnen Kommunikation über mehrerer, gleichsam parallel geschalteter, Kanäle vollzieht. Neben dem gesprochenen Wort verschaffen sich noch weitere Zeichensysteme Geltung. Man denke an parasprachliche Elemente wie die Lautstärkenmodulation und die Tonmelodie oder das (vielsagende) Seufzen, Stöhnen und Räuspern. Schließlich liefern auch die Körper der Beteiligten reichhaltige Ausdrucksfelder, die es fortwährend zu verarbeiten gilt: Gestik, Mimik, Haltung und Kleidung, unbeabsichtigtes Schwitzen, rot werden, Zittern etc. Die genannten Anzeichen von Nervosität lassen wiederum erahnen, dass für die Interaktanten immer etwas auf dem Spiel steht, dass es um etwas geht, nämlich um ein situationsadäquates Verhalten, also um Rollen, die möglichst kompetent gespielt werden müssen sowie um ein dargestelltes Selbst, das die Interaktion möglichst unbeschadet übersteht. Interaktionen sind riskant, sie kosten Mühe und Kraft, manchmal sind sie einfach nur mühselig und kosten deshalb Karft, sie können verletzen; letzteres u. U. insbesondere dann, wenn man keinen Zugang zu ihnen findet. Nirgendwo sonst wird uns das, was man Gesellschaft nennt – Zwänge, Ansprüche und Anforderungen – so gewahr wie in der Interaktion. In ihr arbeiten wir die Gesellschaft kooperativ-dramaturgisch ab, arbeiten wir uns an ihr ab, tragen wir ihre Last, aber gestalten sie auch, was sich mithin sozialstrukturell bemerkbar macht (z.B. durch ein doing gender). Interaktionen sind nun allerdings nicht die Gesellschaft, sondern sie ereignen sich im Kontext multipel differenzierter Handlungsumfelder – Milieus, Kulturen, Institutionen, Organisationen, Funktionsbereiche. Daraus lässt sich folgern: Die Ordnung der Interaktion ist so vielgestaltig wie die Gesellschaft selbst, obschon sie als Entität eigenen Recht doch stets einer eigenen – womöglich universalen – Logik gehorcht. Dem damit angedeuteten ‚Geheimnis‘ der Interaktion auf die Spur zu kommen, ist das Ziel des Seminars, wobei eine Doppelstrategie verfolgt werden soll: Ausgehend von begrifflichen Klärungen, tauchen wir mittels einer Vielzahl von (ethnografischen) Studien in den alltäglichen Wahnsinn der Interaktion ein. So schließen wir uns u. a. mit Wittel einem bürokratischen Großunternehmen an, mischen uns mit Venkatesh unter Crackdealer, fahren mit Hirschauer Fahrstuhl, gehen mit Langer auf den Strich, sind mit Katz „Pissed Off in L.A.“, liefern uns mit Goffman der Welt der Insassen totaler Institutionen aus, steigen mit Waquant in den Boxring oder ziehen mit Collins in den Krieg u.v.m. Zuletzt bietet natürlich die Seminarsituation selbst genügend Gelegenheit des Einübens taktvoller Interaktion. Aber wie heißt es bei Goffman (2007: 222) so schön: „Vielleicht ist das Leben ein Glücksspiel, aber die Interaktion ist es“. Na dann, trauen Sie sich ;-).

Voraussetzung für den Schein-Erwerb: Mitarbeit, Referat und Hausarbeit

Einführende Literatur:

Goffman, Erving (2001): Die Interaktionsordnung. In: Erving Goffman. Interaktion und Geschlecht. Frankfurt a. M./New York: Campus, S. 50–104.

Blockseminar, 4 Sitzungen am Freitag 12.+26. Juni und 3. + 10. Juli, 10.00-16.00 Uhr

Vorbesprechung am 16.4.15 um 16.15 in PSG 00.3

Datenblatt
Semester: 
Sommersemester 2015
Ort und Zeit: 
12./26.6. und 3./10. Juli, 10.00-16.00 Uhr, R. 5.013
Vorbesprechung: 16.4.2015 um 16.15 Uhr, PSG 00.3
Sprache: 
Deutsch
ECTS BA: 
5.0

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