Praktiken des Atmens. Eine Soziologie holistischer Erfahrung
Seit rund zwei bis drei Jahrzehnten ist in Teilen der Soziologie ein verstärktes Interesse an Fragen der Körperlichkeit und Leiblichkeit, impliziten Formen des Wissens sowie an Gefühlen und Emotionen auszumachen. Einem derartigen wissenschaftlichen Interesse korrespondiert eine (zunehmende) „Körper und Erfahrungszentriertheit“ (Höllinger/Tripold 2012) in spezifischen sozialen Welten (Strauss), wie z.B. dem holistischen Milieu, neuen religiösen Bewegungen oder aber bestimmten therapeutischen ‚Kulturen‘. Während unser eigener Leib bei vielen alltäglichen Verrichtungen als unthematisiertes und lediglich subsidiär erfahrenes Mittel der Realisierung von Handlungen fungiert, wird er in den genannten Handlungsbereichen auf unterschiedliche Art und Weise zum ‚Medium‘ des bewussten Erfahrens (des eigenen Selbst) und zum „Generator emotionaler Evidenz“ (Bohn/Hahn 1999: 55).
Für die Soziologie lässt sich allerdings konstatieren, dass empirische Studien, die sich Praktiken des Präsent-Machens des eigenen Leibes in concreto – d.h. im Hinblick auf deren praktischen Vollzug und über die Verwendung von auditiven und visuellen Formen der Datenproduktion hinaus – zuwenden, bisher rar gesät sind. An diesem Punkt setzt das Dissertationsprojekt an. Forschungsstrategisch erscheint es dabei sinnvoll, auf Handlungsbereiche zu fokussieren, in denen eigenleibliche Erfahrungen nicht nur über das alltägliche Ausmaß hinaus auf unterschiedliche Art und Weise relevant gemacht werden, sondern das Machen derartiger Erfahrungen selbst zum handlungspraktischen Problem für die AkteurInnen wird. Dies ist bei der integrativen Atemtherapie, einer im holistischen Milieu zu verortenden institutionellen Form der Selbstthematisierungs- und Selbsterfahrungspraxis, der Fall. Dieser wende ich mich aus einer ethnographischen und interaktionsanalytischen Perspektive in meinem Dissertationsprojekt zu. Die empirische Rekonstruktion der in der Atemtherapie zum Einsatz kommenden Praktiken erlaubt die Thematisierung der allgemeinen Frage, wie der ‚Umgang‘ mit und die ‚Bezugnahme‘ auf den eigenen Leib unter (mikro-)soziologischen Gesichtspunkten verstanden werden kann, wie Leiberfahrung also sozial organisiert und kontextualisiert wird und welche praktischen Methoden dabei zum Einsatz kommen.
Konkret verfolge ich in meinem Dissertationsprojekt drei eng miteinander verzahnte Zielsetzungen, die sich gegenseitig befruchten sollen.
1. Die Entwicklung einer gegenstandsbezogenen Theorie der Praxis integrativer Atemarbeit, die einen Beitrag zu einer empirisch fundierten Soziologie sinnlicher Selbstthematisierung leisten will. Dabei steht nicht nur die Frage im Zentrum, auf welche Art und Weise sich leibliche Erfahrungen in actu vollziehen und welche Operationen dabei zu beobachten sind, sondern zum Beispiel auch, inwieweit Handlungsformate mit explizit „therapeutischer“ Zielsetzung von den AkteurInnen praktisch und interaktiv hervorgebracht werden und auf welche Art und Weise sich ‚außeralltägliche‘ Erfahrungen, die einen hohen Gegenwartsbezug aufweisen, realisieren lassen.
2. Das Dissertationsprojekt zielt darüber hinaus auf eine enge Verknüpfung von grundlagentheoretischer und empirischer Arbeit. Ausgehend von pragmatistischen, praxeologischen und wissenssoziologischen Überlegungen, soll einerseits ein heuristischer Bezugsrahmen entwickelt werden, der es erlaubt, den Gegenstandsbereich ‚angemessen‘ zu fassen. Andererseits soll danach gefragt werden, inwieweit es möglich ist, auf der Grundlage spezifischer empirischer Fälle handlungstheoretische Konzepte zu irritieren und gegebenenfalls Modifikationen, Ergänzungen usw. anzustoßen.
3. Für das Vorhaben stellen sich spezifische forschungspraktische Probleme der Herstellung von Beobachtbarkeit von sich oftmals ‚stumm‘ und (mitunter) bewegungsarm vollziehenden Formen der Handlungskoordination (etwa bei Parallelen zu Mediationsverfahren aufweisenden Atemtherapie-Einzelsitzungen). Die Arbeit versucht am konkreten Gegenstandsbereich, die auftretenden methodischen Probleme zu artikulieren und zu diskutieren und so einen methodologischen Beitrag zu einer auf aktive Teilnahme setzenden ethnographischen Vorgehensweise zu leisten.