Organisationsethnografie

Zu Ende des 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts betätigten sich Anthropologen wie Franz Boas, Bronislaw Malinowski oder Edward E. Evans-Pritchard erstmals als Ethnografen. Das heißt, sie verließen ihre Studierstuben und schwärmten in den von den westlichen Kolonisatoren besetzen überseeischen Gebieten aus, um unmittelbar vor Ort die dort lebenden Menschen zu untersuchen. Was sie vorfanden waren ‚Stämme‘ bzw. ‚Völker‘ mit je eigenen Lebensgewohnheiten, Sitten, Bräuchen, kulturellen Praktiken, Wissensformen sowie Arten und Weisen der sozialen Organisation. Wenn heute Soziologinnen und Soziologen die alltägliche Lebenswelt von Industriebetrieben, Behörden, Vereinen, Hotels, Kirchen, Kneipen oder Bordellen als aktive und/oder passiv beobachtende Teilnehmer auf Zeit studieren, treffen sie typischerweise Ähnliches an, nämlich Menschen, die sich vor dem Hintergrund ihrer organisationalen An- und Einbindungen als ganz eigene ‚Völkchen‘ bzw. ‚Stämme‘ beschreiben lassen. In und durch Organisationen konstituieren sich Interaktionsgemeinschaften, die je eigene Rituale (z.B. allmorgendliche Kaffeerunden) und Mythen (z.B. Firmengründungsgeschichten) pflegen, die kollektive Orientierungs- und Wertmuster (z.B. „wir sind sozial“) sowie informelle Statushierarchien ausbilden und die sich oftmals auch selbst als besondere Gruppe verstehen (z.B. stolze Siemensianer etc.). Anders gewendet: Organisationsethnografen studieren ihren Gegenstand mitunter verstanden als symbolisch strukturierte Sinngemeinschaften bzw. Organisationskulturen. Organisationen sind aber mehr als das. Organisationen sind vor allem komplexe, funktional und hierarchisch differenzierte soziale Systeme eigenen Rechts, die entlang formalisierter, in der Regel schriftlich fixierter Vorgaben, in Auseinandersetzung mit einer gesellschaftlichen Umwelt alltäglich aufs Neue durch die Produktion von aneinander anschließenden Entscheidungen praktisch hergestellt werden müssen. Sobald sich OrganisationsethnografInnen ihrem Gegenstand annähern (erste Kontaktaufnahme), werden sie Teil dieses Herstellungsprozesses und je tiefer sie in den Organisationsalltag eintauchen, also tatsächlich zu Mitgliedern auf Zeit werden, desto größer ist die Chance, diesem doing organization und seinen gesellschaftlichen Konstitutionsbedingungen sowie der Komplexität des sozialen Systems „Organisation“ auf die Spur zu kommen. Vor diesem Hintergrund soll es im Seminar "Organisationsethnografie" um zweierlei gehen: Zum einen wird danach gefragt, wodurch sich die Organisationsethnografie von anderer ethnografischer Forschung unterscheidet. Das setzt insbesondere die Entwicklung eines theoretischen Vorverständnisses vom Gegenstand „Organisation“ voraus. Darauf aufbauend soll es im Seminar aber vor allem ganz praktisch zugehen. Neben der Lektüre einschlägiger Literatur (u.a. beispielgebende Studien), werden sich die SeminarteilnehmerInnen selbst als FeldforscherInnen betätigen, um so ein Gespür für die Herausforderungen sowie die Methoden und Techniken ethnografischer Organisationsforschung zu erlangen (Feldzugang, Rolle im Feld, Beobachtung, Notizen, Auswertung etc.). Kurz gesagt, im Seminar beschäftigen wir uns mit der Frage: What is and how to do organizational ethnography?

Empfohlene Literatur:

Emerson, R.M/Fretz, R.I./Shaw L.L (2011): Writing Ethnographic Fieldnotes, Second Edition, Chicago and London: The University Press.

Neyland, D (2008): Organizational Ethnography, London, Thousand Oaks: Sage.

Ybema, S./Yanow, D./Wels, H./Kamsteeg, F. (Eds.) (2009): Organizational Ethnography. Studying the Complexities of Everyday Life, London, Thousand Oaks: Sage.

Scheinvoraussetzungen: regelmäßige und aktive Teilnahme (u.a. Impulsreferat) sowie Hausarbeit  

Datenblatt
Semester: 
Wintersemester 2017/18
Ort und Zeit: 
Blockseminar
Einführung: Do 19.10.17, 14:00-15:30, R. 5.052
Fr 17.11./8.12.17/12.1.18 je von 10-17 Uhr, PSG 00.4
Sprache: 
Deutsch
ECTS BA: 
7.5

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